Themen und Thesen

HERMENEUTIK

Der Titel ›Hermeneutik‹ deckt, wie das oft mit solchen aus dem Griechischen stammenden Worten, die in unsere Wissenschaftssprache Eingang gefunden haben, geschehen ist, sehr verschiedene Niveaus der Reflexion. Hermeneutik meint in erster Linie eine kunstvolle Praxis. Das deutet die Wortbildung an, zu der ›Techne‹ zu ergänzen ist. Die Kunst, um die es sich dabei handelt, ist die der Verkündung, des Dolmetschens, Erklärens und Auslegens und schließt natürlich die ihr zugrunde liegenden Kunst des Verstehens ein, die überall dort erfordert ist, wo der Sinn von etwas nicht offen und unzweideutig zutage liegt.

Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), in: Gesammelte Werke (GW) 2, 92.

Wer verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch meine ich, daß uns die hermeneutische Erfahrung lehrt, daß kritische Anstrengung stets nur in begrenztem Umfang wirksam wird. Das, was man versteht, spricht stets auch für sich selbst. Darauf beruht der ganze Reichtum des hermeneutischen Universums, das allem Verständlichen geöffnet ist. Indem es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es den Verstehenden, seine eigenen Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das sind Reflexionsgewinne, die aus der Praxis und allein aus Praxis einem zuwachsen.

Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik (1971), in: GW 2, 273

Eine Theorie der Praxis des Verstehens ist offensichtlich Theorie und nicht Praxis, aber eine Theorie der Praxis ist deshalb nicht eine ‚Technik’ oder eine angebliche Verwissenschaftlichung der gesellschaftlichen Praxis: Sie ist eine philosophische Besinnung auf die Grenzen, die aller wissenschaftlich-technischen Beherrschung von Natur und Gesellschaft gesetzt sind. Das sind Wahrheiten, die gegenüber dem neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff zu verteidigen eine der wichtigsten Aufgaben einer philosophischen Hermeneutik ist.

Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), in: GW 2, 117

Wir leben in Überlieferungen und diese sind nicht ein Teilbereich unserer Welterfahrung, nicht eine sogenannte kulturelle Überlieferung, die allein aus Texten und Dokumenten bestünde und einen sprachlich verfaßten und geschichtlich dokumentierten Sinn weitervermittelte. Vielmehr ist es die Welt selbst, die kommunikativ erfahren und als eine ins Unendliche offene Aufgabe uns beständig übergeben wird (traditur). Sie ist nie die Welt eines ersten Tages, sondern immer schon uns überkommen. Überall da, wo etwas erfahren, wo Unvertrautheit aufgehoben wird, wo Einleuchten, Einsehen, Aneignung erfolgt, vollzieht sich der hermeneutische Prozeß der Einbringung in das Wort und in das gemeinsame Bewußtsein.

Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1975), in: GW 2, 498

GEISTESWISSENSCHAFTEN

Die Erfahrung der geschichtlichen Überlieferung reicht grundsätzlich über das hinaus, was an ihr erforschbar ist. Sie ist nicht nur in dem Sinne wahr oder unwahr, über den die historische Kritik entscheidet – sie vermittelt stets Wahrheit, an der es teil zu gewinnen gilt.

Wahrheit und Methode (1960), GW 1, 3

Aus diesem Grunde habe ich vorgeschlagen, das Ideal der objektiven Erkenntnis, das unsere Begriffe von Wissen, Wissenschaft und Wahrheit beherrscht, durch das Ideal der Partizipation zu ergänzen. Die Partizipation an den wesentlichen Aussagen menschlicher Erfahrung, wie sie sich in der künstlerischen, der religiösen und der geschichtlichen Überlieferung nicht nur unserer, sondern aller Kulturen ausgebildet haben, – diese mögliche Partizipation ist das eigentliche Kriterium für den Reichtum oder die Armseligkeit geisteswissenschaftlicher Resultate.

Hermeneutik, Ästhetik, praktische Philosophie. Hans-Georg Gadamer im Gespräch (1993), 14f.

Jeder von uns muß die Verifizierbarkeit aller Erkenntnis in den Grenzen des Möglichen als ein Ideal gelten lassen. Aber wir müssen uns eingestehen, daß dieses Ideal sehr selten erreicht wird und daß diejenigen Forscher, die dieses Ideal am präzisesten zu erreichen erstreben, uns meistens nicht die wahrhaft wichtigen Dinge zu sagen haben. So kommt es, daß es in den Geisteswissenschaften etwas gibt, was in den Naturwissenschaften in gleicher Weise nicht denkbar ist, daß nämlich der Forscher mitunter aus dem Buche eines Dilettanten mehr lernen kann als aus den Büchern der anderen Forscher. Das beschränkt sich natürlich auf Ausnahmefälle. Aber daß es dergleichen gibt, zeigt an, daß sich hier ein Verhältnis von Wahrheitserkenntnis und Sagbarkeit auftut, das nicht an der Verifizierbarkeit von Aussagen zu messen ist. Wir kennen das aus den Geisteswissenschaften so sehr, daß wir gegen einen bestimmten Typus wissenschaftlicher Arbeiten begründetes Mißtrauen hegen, die die Methode, mit der sie gearbeitet sind, vorn und hinten und vor allem unten, das heißt in den Anmerkungen, allzu deutlich zeigen. Ist da wirklich etwas Neues gefragt? Ist da wirklich etwas erkennt? Oder wird da nur die Methode, mit der man erkennt, so gut nachgemacht und in ihren äußeren Formen getroffen, daß sich auf diese Weise der Eindruck einer wissenschaftlichen Arbeit ergibt? Wir müssen uns eingestehen, daß umgekehrt die größten und fruchtbarsten Leistungen in den Geisteswissenschaften dem Ideal der Verifizierbarkeit weit vorauseilen. Das aber wird philosophisch bedeutsam.

Was ist Wahrheit? (1957), in: GW 2, 50

Wie es mit der Toleranz ist, daß sie auf einer inneren Stärke beruhen muß, so ist es auch mit der wissenschaftlichen Objektivität, die in den Geisteswissenschaften vorausgesetzt ist. Auch hier handelt es sich nicht um Selbstaufgabe und Selbstauslöschung zugunsten eines allgemeinen Geltenlassens, sondern um die Einsetzung des eigenen für die Erkenntnis des Anderen und für die Anerkennung des Anderen. Das wahrhaft global gewordene Aufgabenfeld menschlicher Koexistenz auf diesem Erdball ist die eigentliche Aufgabe der menschlichen Zukunft. Ich würde nicht wagen zu sagen, daß die Geisteswissenschaften hier ihre Aufgabe haben. Ich würde eher umgekehrt sagen, daß es die Aufgaben, wie sie in solchem pluralistischen Verflochtensein der Menschheit in steigendem Maß erwachsen werden, sind, die den Geisteswissenschaften immer neue Aufgaben stellen; Aufgaben der historischen Forschung, der sprachgeschichtlichen, der literaturgeschichtlichen, der kunstgeschichtlichen, der rechtsgeschichtlichen, der wirtschaftsgeschichtlichen, der religionsgeschichtlichen Forschung, die unmittelbar in Wirklichkeitsbezüge einwirken.

Die Zukunft der europäischen Geisteswissenschaften (1983), in: Hermeneutische Entwürfe, 127.

PHILOSOPHIE UND GESCHICHTE

Die Philosophie steht zu ihrer Geschichte in einem grundsätzlich anderen Verhältnis, als die Wissenschaften sonst zu ihrer Geschichte stehen. Zwar kann heute keine Erneuerung der apriorischen Geschichtskonstruktion in Frage kommen, die es etwa Hegel erlaubte, in der Geschichte der Philosophie das Innerste der Weltgeschichte zu sehen. Aber ein anderer Gedanke Hegels bleibt wahr, daß es dem Wesen des Geistes gemäß ist, daß seine Entfaltung in die Zeit fällt. So hat das Denken, das den Geist denken will, kaum je mehr mit sich selbst zu tun, als wenn es der Geschichte seiner selbst zugewandt ist.

Die Philosophie und ihre Geschichte (1998), in: Hermeneutische Entwürfe, 69

Es ist die Aufgabe der Philosophie, das Gemeinsame auch unter dem Differenten zu finden. »Auf eines hin zusammensehen lernen«, das ist nach Plato die Aufgabe des philosophischen Dialektikers.

Die Aktualität des Schönen (1974), in: GW 8, 103

Welchen Endes Anfang ist eigentlich der Anfang der abendländischen Philosophie? Es mochte noch im Zeitalter des Neukantianismus eindeutig klingen, wenn man die Frage als die nach dem Anfang der Wissenschaft und dem Anfang der wissenschaftlichen Philosophie verstand. Nun aber beginnt der Wissenschaftscharakter der Philosophie aufgrund der gewaltigen Horizonterweiterung fragwürdig zu werde, in der unser Denken andere Kulturen wahrzunehmen beginnt. Sie werfen uns ein Bild zu, nach dem es auch in ihnen religiöse Tiefe und theoretische Leidenschaft gab, ohne daß dort Wissenschaft im modernen Sinne des Wortes entstanden wäre. So haben wir auch mit ganz anderen Antworten zu rechnen.

Die Philosophie und ihre Geschichte (1998), in: Hermeneutische Entwürfe, 76

Geschichtlichsein heißt, nie im Sichwissen Aufgehen.

Wahrheit und Methode (1960), in: GW 1, 307

Das Vorbild der Wissenschaft, das unsere Zeit bestimmt, sollte uns zugleich vor der Versuchung schützen, im Philosophieren dem Bedürfnis nach Einheit durch voreilige Konstruktionen nachzugeben. Wie unsere gesamte Welterfahrung einen nie zu Ende kommenden Prozeß der Einhausung darstellt – um mit Hegel zu reden – auch in einer immer fremder werdenden, weil nur allzu sehr von uns veränderten Welt –, so ist auch das Bedürfnis nach philosophischer Rechenschaftsgabe ein unendlicher Prozeß. In ihm vollzieht sich nicht nur das Gespräch, das jeder einzelne denkend mit sich selbst führt, sondern auch das Gespräch, in dem wir alle zusammen begriffen sind und nie aufhören, begriffen zu sein – ob man die Philosophie totsagt oder nicht.

Über das Philosophische in den Wissenschaften und die Wissenschaftlichkeit der Philosophie (1975), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 31

BEGRIFFSGESCHICHTE

Die Begriffe der Philosophie erhalten ihre Sinnbestimmtheit nicht durch eine willkürliche Bezeichnungswahl, sondern aus der geschichtlichen Herkunft und Sinngenese der Begriffe selbst, in denen sich das philosophische Denken bewegt.

Die Begriffsgeschichte und die Sprache der Philosophie (1971), in: GW 4, 79

Begriffsgeschichte erscheint mir als eine Vorbedingung für kritisch-verantwortliches Philosophieren in unserer Zeit, und es ist nur auf dem Wege über die Wortgeschichte, daß sich die begriffsgeschichtliche Forschung vorwärtsbewegen kann.

Philosophische Lehrjahre (1977), 183

Wer sich nicht von der Sprache treiben lassen will, sondern um ein begründetes geschichtliches Selbstverständnis bemüht ist, sieht sich von einer Frage der Wort- und Begriffsgeschichte in die andere genötigt. […] Begriffe wie ›die Kunst‹, ›die Geschichte‹, ›das Schöpferische‹, ›Weltanschauung‹, ›Erlebnis‹, ›Genie‹, ›Außenwelt‹, ›Innerlichkeit‹, ›Ausdruck‹, ›Stil‹, ›Symbol‹, die uns selbstverständlich geworden sind, bergen in sich eine Fülle an geschichtlichem Aufschluß.

Wahrheit und Methode (1960), in: GW 1, 15

Teleologische Nomenklaturen, wie sie im ersten Anlauf bei der Ordnung und Klassifikation der Geschichte der Philosophie unvermeidlich waren, wie Monismus und Dualismus, Positivismus und Apriorismus, Naturalismus und Mentalismus, und wie man die Reihe endlos verlängern kann, bedeuten, daß dort, wo sie noch in Gebrauch sind, die historische Reflexion von dogmatischen Vorurteilen gelähmt ist. Das gilt im besonderen für die angelsächsische Tradition, soweit sie nicht durch die neuere Sprachkritik zu einer höheren Bedenklichkeit genötigt worden ist.
Die begriffsgeschichtliche Aufgabe bleibt jedenfalls, den Prozeß der Neutralisierung rückgängig zu machen, der im Gebrauch dieser Schemabegriffe eingetreten ist, und ihrem ursprünglichen kritisch-polemischen Sinn und damit ihre historische Verifikation wieder aufleben zu lassen. Das hat für die spätere Phänomenologie Heidegger unter dem revolutionären Stichwort ‚Destruktion’ eine ganze Generation gelehrt. Destruktion hat freilich nichts mit Zerstörung zu tun, sondern ist Abbau und Rückgang auf die eigentlich sprechenden Ursprünge der Begriffsworte.

Die Philosophie und ihre Geschichte (1998), in: Hermeneutische Entwürfe, 93

ÄSTHETIK UND POETIK

Kunst ist Erkenntnis, und die Erfahrung des Kunstwerks macht dieser Erkenntnis teilhaftig.

Wahrheit und Methode (1960), in: GW 1, 183

Das Spiel der Kunst ist […] ein durch die Jahrtausende hindurch immer auf neue vor uns auftauchender Spiegel, in dem wir uns selber erblicken – oft unerwartet genug, oft fremdartig genug –, wie wir sind, wie wir sein könnten, was es mit uns ist.

Das Spiel der Kunst (1977), in: GW 8, 92

Es wird wahr sein, daß der Zugang zu älterer Kunst für eine jüngere Generation, der vieles an historischer und gelehrter Kenntnis fehlen mag, schwerer zugänglich ist, als die aus unserer eigenen Industriewelt emporwachsende Produktion. Umgekehrt mag es für die Älteren schwer sein, von dem großen Reichtum und der Bedeutungsfülle, die aus den großen Werken der Kunst vergangener Zeiten zu uns spricht, abzusehen, wenn man sich dem heutigen Schaffen öffnen will. Wir haben alle unsere Grenzen, die wir nicht überschreiten können. Manchmal mag uns einer etwas zeigen wollen, was wir auch dann noch nicht sehen. Vorurteile des Geschmacks, der Bildung, auch der Unbildung, Wirkungen der Gewohnheit und der Erwartung mögen in den Weg treten – und dann wieder erfahren wir die Wirklichkeit dessen, was Kunst ist, wenn etwas in die Aura des Einzigartigen gehüllt ist, das uns ergreift, das uns begrenzt und das wir bewundern.

Der Kunstbegriff im Wandel (1995), in: Hermeneutische Entwürfe, 159f.

Dichterische Gebilde sind in einem neuartigen Sinne ›Gebilde‹, sie sind in eminenter Weise ›Texte‹. Sprache tritt hier in ihrer vollendeten Autonomie heraus. Sie steht für sich und bringt sich zum Stehen, während sonst Worte durch die Intentionsrichtung der Rede überholt werden, die sie hinter sich läßt.

Selbstdarstellung Hans-Georg Gadamer (1975), in: GW 2, 508

Die Aufgabe ist, das, was ein Gebilde ist, in sich aufzubauen, etwas, was nicht ›konstruiert‹ ist, zu konstruieren – das schließt ein, daß alle Konstruktionsversuche wieder zurückgenommen werden. Während die Einheit von Verstehen und Lesen sich sonst in verständnisvollem Lesen vollzieht und dabei die sprachliche Erscheinung ganz hinter sich läßt, redet beim literarischen Text ständig etwas mit, das wechselnde Sinn- und Klangbezüge präsent macht. Es ist die Zeitstruktur der Bewegtheit, die wir das Verweilen nennen, die solche Präsenz ausfüllt und in die alle Zwischenrede der Interpretation einzugehen hat.

Text und Interpretation (1983), in: GW 2, 358f.

VERNUNFT UND MENSCHLICHE PRAXIS

Immer besteht Vernunft darin, auf dem für wahr Gehaltenen nicht blindlings zu bestehen, sondern sich kritisch an ihm zu betätigen. Ihr Tun bleibt des der Aufklärung, aber nicht als Dogmatik einer absolut gesetzten neuen Rationalität, die alles besser weiß – Vernunft ist auch über sich selbst und ihre eigene Bedingtheit in beständiger Selbstaufklärung begriffen.

Über die Macht der Vernunft (1968), in: Lob der Theorie, 65

Ein ›richtiges‹ Menschenbild, das ist vor allem ein durch Naturwissenschaft, Verhaltensforschung, Ethnologie wie die Vielfalt geschichtlicher Erfahrung entdogmatisiertes Menschenbild. Es wird die klare normative Profilierung schuldig bleiben, auf die sich die wissenschaftliche Anwendung auf die Praxis, etwa im Sinne des social engineering, stützen möchte. Aber es ist ein kritisches Maß, das das Handeln des Menschen von vorschnellen Wertungen und Abwertungen befreit und seinen Zivilisationsweg an sein Ziel erinnern hilft, der – sich selbst überlassen – weniger und weniger ein Weg zur Beförderung der Humanität zu werden droht. So, und nur so, dient die Wissenschaft über den Menschen dem Wissen des Menschen von sich selbst und damit der Praxis.

Theorie, Technik, Praxis (1972), in: GW 4, 266

Man wird es in allen Bereichen praktischer Regelanwendung finden, und es gehört wohl zu aller ›Praxis‹, daß je mehr einer sein Können ›beherrscht‹, er desto mehr Freiheit gegenüber diesem Können besitzt. Wer seine Kunst ›beherrscht‹, braucht weder sich noch anderen seine Überlegenheit zu beweisen. Das ist eine alte platonische Weisheit, daß wahres Können gerade auch die Abstandnahme von ihm ermöglicht, so daß der Meisterläufer auch am besten ›langsam‹ gehen kann, der Wissende auch am sichersten lügen kann usw. Was Plato damit unausgesprochen meint, ist eben, daß diese Freiheit gegenüber dem eigenen Können erst für die Gesichtspunkte der eigentlichen ›Praxis‹ freisetzt, die über die Kompetenz des Könnens hinausgehen – das, was Plato ›das Gute‹ nennt, das unsere praktisch-politischen Entscheidungen determiniert.“

Theorie, Technik, Praxis (1972), in: GW 4, 261

Schon die Griechen wußten es: das Gute ist ein buntfarbiges Etwas. Der Streit um es ist so tief eingewurzelt, daß die Begrenzung der Vernunft durch das Kontingente, auf das man stößt und das man nicht denkend vorwegnehmen und ableiten kann, geradezu allgegenwärtig ist.

Vernunft und praktische Philosophie (1986), in: GW 10, 259

Kann es eine Wissenschaft vom Guten geben? […] In Wahrheit müssen wir ständig selber wählen, und ob wir wirklich das Gute dabei treffen oder auch nur das Bessere, bleibt im allgemeinen ein Risiko. Insofern ist das berühmte Wissen des Nicht-Wissens, das Sokrates auszeichnet, in gewissem Sinne gar nichts so Besonderes, oder besser: das Nichtwissen als solches ist nichts Besonderes. Sich das einzugestehen ist dagegen nicht so leicht.

Die Grenzen des Experten (1989), in: Das Erbe Europas, 149

SPRACHE UND GESPRÄCH

Sprache ist nur im Gespräch ganz das, was sie sein kann.

Behandlung und Gespräch (1989), in: Die Verborgenheit der Gesundheit, 161

Sprechen zu können heißt, sich über die eigenen Grenzen erheben zu können. So impliziert die universale Möglichkeit des menschlichen Gesprächs, des Miteinander- und des Gegeneinanderredens, einen Bezug auf Vernunft als das gemeinsame menschliche Medium, in dem Einsicht gelingt.

Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft (1967), in: GW 10, 314

Wenn man freilich im Sprechen nichts anderes sieht als die Verlautbarung schon still für sich in sich hineingesprochenen Gedanken, hat man das wirklich Rätselhafte im Wesen der Sprache gründlich verkannt.

Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992), in: GW 8, 432

Jedes Gespräch setzt eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser: es bildet eine gemeinsame Sprache heraus. Es ist da etwas in die Mitte niedergelegt, wie die Griechen sagen, an dem die Gesprächspartner teilhaben und worüber sie sich miteinander austauschen. Die Verständigung über eine Sache, die im Gespräch zustande kommen soll, bedeutet daher notwendigerweise, daß im Gespräch eine gemeinsame Sprache erst erarbeitet wird. Das ist nicht ein äußerer Vorgang der Adjustierung von Werkzeugen, ja es ist nicht einmal richtig zu sagen, daß sich die Partner aneinander anpassen, vielmehr geraten sie beide im gelingenden Gespräch unter die Wahrheit der Sache, die sie zu einer neuen Gemeinsamkeit verbindet. Verständigung im Gespräch ist nicht ein bloßes Sichausspielen und Durchsetzen des eigenen Standpunktes, sondern eine Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war.

Wahrheit und Methode (1960), in: GW 1, 384

Das Gespräch, das im Gange ist, entzieht sich der Festlegung. Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder er müßte das letzte Wort behalten.

Nachwort zur 3. Auflage von Wahrheit und Methode, in: GW 2, 478